Neue Zürcher Zeitung_08. 04. 2021. [SUI]

Der Dichter Mór Jókai ist ein nationales Monument der ungarischen Literatur. Wer daran rührt, macht sich definitiv unbeliebt.

Paul Jandl

Krisztina Tóth löst mit einer schlichten Antwort auf eine schlichte Frage einen Sturm der Entrüstung aus.

Judit Marjaj

Es begann einigermassen harmlos, aber Dinge dieser Art können in Ungarn schnell eskalieren. Wie manch anderen ungarischen Schriftsteller hatte das kleine Kultur-Blog «Könyves Magazin» im Februar auch Krisztina Tóth gebeten, elf Fragen über die Literatur und das eigene Schreiben zu beantworten. Lektürevorlieben wie Thomas Mann, Sofi Oksanen und Karl Ove Knausgård wurden genannt, aber eine Frage hatte es in sich. Auf welches Buch man denn im Lesekanon der Schulen verzichten könne?

Krisztina Tóth nannte Mór Jókais Roman «Ein Goldmensch» («Az arany ember»), ein 1872 erschienenes Werk, das zum nationalen Erbe gehört wie Goethe zu Deutschland. Sie störe sich an Jókais Frauenbild, sagte Tóth, da ein wesentlicher Teil der Menschheit nur in der untertänigen Rolle im Haushalt gezeigt werde. Bei Jókai seien die Frauen duldsam und nähmen alles Ungemach schweigend hin. Das, so Krisztina Tóth, sei ein Rollenklischee, mit dem man heute heranwachsenden jungen Frauen nicht kommen müsse.

Eine Meinung, mehr nicht. Eine Antwort auf einem Fragebogen, den auch Schriftstellerkollegen schon ausgefüllt hatten. Aber es wäre nicht Ungarn, wenn aus der Frage nach nationalem Kulturgut nicht eine Staatsaffäre werden könnte. Mittlerweile mit allem, was dazugehört. Todesdrohungen und gewaltigen Shitstorms, unter denen die Website der Autorin zusammengebrochen ist. Hundekot im Briefkasten und Hasskommentare in den regierungsfreundlichen Zeitungen.

Rabiate Verhöhnung

Krisztina Tóth wurde 1967 in Budapest geboren, wo sie auch heute noch lebt. Sie zählt zu den wichtigsten ungarischen Autorinnen der mittleren Generation. Ihre Bücher, Lyrik und Prosa, sind in sechzehn Sprachen übersetzt. Spätestens seit dem Erscheinen der Erzählbände «Pixel» oder «Aquarium» (beide im Wiener Nischen-Verlag) auf Deutsch ist sie auch hierzulande bekannt. Wenn Krisztina Tóth heute sagt, dass sie politisch nicht einmal besonders engagiert sei und nur in Ruhe arbeiten wolle, dann wird ihr das nicht helfen.

In den Zeitungen und sozialen Netzwerken wird die Schriftstellerin nach Kräften in ihrer Eigenschaft als Frau verhöhnt. Der Orbán-Intimus und durch seine rabiate Wortwahl bekannt gewordene Publizist Zsolt Bayer liess verlauten, dass die Schriftstellerin ihre Hässlichkeit mit Schminke übertünche. Dem Nationaldichter Jókai wird ideologisch nach Kräften beigesprungen.

Dass sie als Frau eine Meinung habe, mache Krisztina Tóth schon verdächtig, und ausserdem, so stand es im Orbán-nahen Blatt «Magyar Nemzet», könne die Autorin nicht einmal eine richtige Suppe kochen. Tóth will in der Hetzjagd gegen ihre Person auch den grösseren Zusammenhang sehen. Die Politik wird auf keinen noch so geringen Anlass verzichten, um die erregungsbereiten Massen in Stimmung zu versetzen.

Der aus einer Nichtigkeit entstandene Skandal ist symptomatisch, denn es steckt tatsächlich viel 19. Jahrhundert in diesem 21. Jahrhundert Ungarns. Zentrale patriotische Werte kommen aus Zeiten, in denen das Selbstbewusstsein des Landes gewachsen ist. Die Bürger auf die Verteidigung gegen vermeintliche Landesfeinde einzuschwören, ist nach innen wie nach aussen Programm. Draussen sind es die EU und die imaginierten Gefahren der Globalisierung, die die ungarische Identität angeblich im Visier haben. Im Land selbst sind es Intellektuelle, die in Distanz zur propagandistischen Rückkehr in die Vergangenheit stehen.

Grosse Namen wie die Schriftsteller György Konrád und Imre Kertész waren es in der Vergangenheit der Orbán-Jahre. Danach gab es einen Feldzug gegen die Philosophin Ágnes Heller und zuletzt gegen den Sozialpsychologen Péter Krekó, der Bücher über die neue Rechte und über den Populismus in Ungarn geschrieben hat.

Breite Solidarität

Dass in Zeiten der Pandemie der Kampf gegen alles Intellektuelle, gegen die vermeintlichen Sozialschmarotzer, offenbar auf besonders fruchtbaren Boden fällt, hat Krisztina Tóth in Interviews betont. Genauso wie den Mangel an Gegenöffentlichkeit zur regierungsnahen Meinung. Immer mehr Medien stehen in deren direktem Einflussbereich.

Von offizieller ungarischer Seite hat sich in Sachen Hetzkampagne gegen Krisztina Tóth der Chef des Wiener Collegium Hungaricum zu Wort gemeldet. Es gebe keinen Grund, so Anzelm Bárány, «hinter der manchmal groben Sprache und den bedauerlichen Beleidigungen eine von den Regierungskreisen orchestrierte Kampagne» zu sehen. Ausserdem habe Krisztina Tóth in den Orbán-Jahren dreizehn Bücher ungehindert veröffentlichen können.

Eine internationale Gegenöffentlichkeit in der Causa Tóth zumindest gibt es jetzt. Von der Budapester Szécheniy-Akademie für Literatur und Kunst über den französischen PEN bis zur «Grazer Autorinnen Autorenversammlung» (GAV) haben sich unterschiedlichste Schriftstellerverbände mit Krisztina Tóth solidarisiert. Ihr Verlag hat den Hashtag #OlvassTóthKrisztinát (Lest Krisztina Tóth) ins Leben gerufen. Wegen der Angriffe hat die Schriftstellerin mittlerweile ihre Tochter in einer anderen Schule einschreiben lassen. Sie hofft, dass die Lage in Ungarn vor den Wahlen im Jahr 2022 nicht noch schlimmer wird.